Newsletter 08.10.2025

Ich war heute in einem Pflegeheim.
Einem Seniorenstift.
Einer Altersresidenz.
Jetzt brauch ich ganz viel Schokolade. Für mein Herz.
Ich versteh das alles.

Dass man nicht allein sein soll im Alter. Dass man eine gute Versorgung, ja sogar Fürsorge, viele Anregungen und drei oder vier Mahlzeiten am Tag bekommt. Dass man Menschen um sich herum hat, mit ähnlichen Interessen, ähnlichen Erfahrungen, ähnlichem Lebenshintergrund.
Das ist alles rundum gut.

Früher, als die Kinder noch klein waren, ganz klein, gab es immer dieses Kindergartenphänomen.
Jede Mutter und jeder Vater kennt das. Man hält die Hand eines durch und durch renitenten, störrischen Dreijährigen. Gerade noch hat man mit Engelszungen und stringent geführter Argumentationskette versucht, irgendeine extrem wichtige Regel durchzusetzen.
Anschnallen im Auto zum Beispiel. Oder Handschuhe-tragen bei minus 15°. Und einer halben Stunde Fußweg. Die Gegenseite (dreijähriger Dreikäsehoch) hat versiert und eloquent gegengehalten.

„Nöh. Will nicht. Lass mich.“

Der Zwerg mit den eisekalten Fingern betritt den Raum. 15 andere Trotzköpfe blicken misstrauisch in die Runde und – nichts passiert. Kaum hat man das Kind aus Elternhand in die Institution geführt, verliert sich jede widerspenstige Individualität. Das Kind reiht sich brav, wüsste man es nicht besser, könnte man behaupten „wohlerzogen“, in die Institution ein und – funktioniert.
Nur noch einer unter vielen.

Zurück zur Altersresidenz.
Ich steh am Eingang.
Sofort kommt ein Mutz-Gast auf mich zu: „Hallo Sabine, was machst Du denn hier…?“ Sie wohnt hier, kann es total empfehlen, bleibt jetzt hier – „… bis zum Ende“, so sagt sie.
Bis zum Ende.

Ich geh in den Wartebereich, mein Blick fällt auf zwei gut gefüllte Bücherregale. Viele Krimis, ein paar Liebesschnulzen, zwei dicke gebundene Bände mit Erzählungen und Romanen von Vladimir Nabokov.
Bleiben die Bücher zurück, wenn die Besitzer versterben?

Ich stell mir vor, wie das ist. Zuhause vor einer überbordenden Bücherwand stehen und überlegen, was man einpackt. Für das Ende.
Wie man die gesammelten Werke Nabokovs in die Hand nimmt. 24 Bände. Band für Band. Warum wählt man zwei aus, welche zwei wählt man aus?
Sind darin die Geschichten, die man sich vorgelesen hat, vor so langer Zeit, als man noch so jung war, als man das Leben noch geteilt hat, als man es noch ganz vor sich hatte, das ganze große, wunderbare Leben? Vielleicht hat man lange darauf gespart, auf die Gesamtausgabe, oder hat sich jedes Weihnachten Jahr für Jahr einen weiteren Band geschenkt.

Jetzt stehen da zwei Bände. Vladimir Nabokov. Gesamtausgabe Band 13 und 14. Verloren irgendwie. Vermutlich seit Jahren unberührt.
Ich dreh mich um.

Eine Frau sitzt mir gegenüber, in einem Rollstuhl.
Sie hat sehr sehr lange, sehr dünne Beine, die in einer schwarz-weiß gefleckten Leopardenleggins stecken. Die Beine sind merkwürdig angewinkelt, passen nicht richtig in den Stuhl, sie muss sehr groß sein.
Ihre grauen Haare sind lang, an ihren dünnen Armen blinken acht Armbänder.
Zwei Kuscheltiere sitzen auf ihrem Schoß, ein Teddybär und ein Plüschhase, sie hält sie fest, ihr rechter Daumen streichelt ein wenig mechanisch über das Fell des Teddys.

Ich bin davon überzeugt, dass diese Frau einmal wunderschön war. Attraktiv, sehr groß und sehr beeindruckend. Man spürt das.
Eine Pflegerin kommt, sie ist sanft und freundlich, spricht geduldig auf die Teddydame sein, bringt sie weg. Eine andere Pflegerin schiebt eine dunkelhaarige Frau im Rollstuhl vor ein großes Fenster, 10 Minuten rausschauen, dann wird sie sie wieder abholen. Alles ist nett, alles ist sauber.
Aber ich schaff das nicht.
Wieder eine Institution, die das Individuum verschluckt.

All diese wunderbaren Menschen. Diese Radrennfahrer, Professoren, Wanderer, Sänger. Diese Geschichtenerzähler, Querflötenspieler, diese Puppenhausbauer, Modelleisenbahnbastler, diese Lese- und Vorleseratten – ich kann sie nicht sehen.
Ich seh nur „Endstation“.

Wie gesagt, ich kann das alles verstehen, aber ich möchte so nicht alt werden.
Im Herbst denkt man vielleicht zu viel über das Altwerden nach. Morgen habe ich zum Glück keine Zeit mehr zum Nachdenken. Da back ich Nusskuchen. Weil es ja Herbst ist. Und weil er so unfassbar gut schmeckt, der Nusskuchen. Mit karamellisierten Haselnüssen obenauf.

Meine Schwiegermutter war ein wirklich individualistisches Individuum, bis zum letzten Tag zuhause, unter allerschwersten Bedingungen, amputierte Beine, Rollstuhl, aber Kippe im Mund und Kochlöffel in der Hand. Konnte kochen wie der Teufel.
Ossobuco. Kalbshaxe hätte man bei ihr in Rheinland-Pfalz gesagt, aber der Liebe wegen landete das blutjunge Ding in Italien und dort wird aus der Kalbshaxe ein Ossobuco. Im Mutz auch. Köstlich geschmort mit Sellerie und Karotten, serviert mit Spätzle – Süddeutschland meets Italia würd ich sagen.

Die Mail ist viel zu lang geworden, wenn Sie bis hier hin gelesen haben, dann sind Sie eine veritable Leseratte und sollten unbedingt zu unseren Lesungen kommen – noch habe ich leider gar nicht ausreichend viele Interessenten.

Sonntag,12.10 um 18:00 Uhr: Michael Bohl liest aus „Last Call Manila“, passend zu dem Buchmessen-Gastland Philippinen. Ein Genuss, weil Michael Bohl eine Vorleseratte ist, im positivsten Sinne.

Mittwoch,15.10 um 19:00 Uhr wird Zia Qasemi, ein in Schweden lebender afghanischer Autor aus seinem Buch „der Mitternachtssammler“ lesen. Das Buch gilt als eindringliches Zeugnis der afghanischen Geschichte.

Donnerstag 16.10 um 19:00 Uhr stellt Claudia Fratz ihr Buch „Wie eine tickende Bombe unter uns“ vor. In 65 Fragen nimmt uns die Autorin mit auf ihre langjährige Suche nach Antworten auf die vielen Fragen zum Leben ihrer Großeltern während der NS-Diktatur 1933-1945 und dem Versuch, deren Mittäterschaft und die daraus resultierenden Auswirkungen auf die Familie zu beleuchten.

Vielleicht auch eine gute Lesung für Eltern und Jugendliche, es sind ja Herbstferien?
Die Wochen drauf sind wir musikalisch nochmal ganz weit vorn:

• Mittwoch 22.10 kommt der Liedermacher Erwin R. und singt seine Lieder mit seinem wunderbarem Österreicher „Schmäh“….

• Donnerstag 23.10 betören Tender Leech mit ihrer beeindruckenden Sängerin Ines Stöcker mit ihrem tollen Acoustic Pop noir, kommen Sie gerne, nutzen Sie die Gelegenheit zu einem so schönem Konzert

• Sonntag 26.10 kommt Schmackes. Schmackes spielen Klezmermusik, ohne Mühe fühlt man sich direkt zu einer osteuropäischen Hochzeit eingeladen, ein einziges Fest, feiern Sie mit!

• Donnerstag 30.10 spielt das Duo Body & Belle mit Special Guest Rüdiger Horn handverlesene Songs aus dem Bereich Americana, Folk und Country. Das Spektrum reicht von Altmeistern wie Hank Williams, Steve Earle und Joan Baez bis zu Emmylou Harris, oder Songperlen der amerikanischen alternativen Bluegrassszene. Das Programm umfasst lockere Road Songs, Balladen und Klassiker. Musik jenseits populärer Gassenhauer mit bodenständigem Songmaterial der amerikanischen Roots Music

• Sonntag 2.11 treten DuoLia. auf. DuoLia. machen Indie-Folk mit selbst geschriebenen Liedern. Zwei Stimmen, die sich gegenseitig auffangen und ergänzen. Manchmal laut, manchmal leise, stets umrahmt vom warmen Klang der Gitarre und Violine. DuoLia. sind Alia Wüschner und Julia Jackel und stellen „Das vielleicht schönste Frühlingsalbum Österreichs“ vor – Robert Fröwein, Kronen Zeitung
So, meine Schokolade ist schon lange leer… bis die Tage, ich freu mich auf Sie

die Sabine vom Mutz