Caroline Wahl
Meist türmt sich auf meinem Nachtisch ein Babel-Bau angelesener Bücher. Jedes Buch hat seine Zeit. Die Bücher liegen eben da, weil ihr Moment offensichtlich noch nicht gekommen ist. Manchmal ist es einfach nur eine unpassende Jahreszeit, die falsche örtliche Umgebung oder nicht die richtige Stimmung, das merke ich schnell und lege die Bücher nach wenigen Seiten behutsam auf meinen wachsenden Stapel.
Manchmal, selten, halte ich ein Buch in der Hand und weiß schnell, dieses Buch wird meinen Nachttisch nicht erreichen.
Ich werde es, wenn die Müdigkeit den Kampf gegen die Spannung gewinnt, neben mir auf dem Bett liegen lassen. Es muss nah bei mir bleiben. Es geht ein Zauber von ihm aus.
„22 Bahnen“ ist so ein Buch.
Tilda, Ida und Viktor.
Ich teile Tilda´s Blick, der angstvoll nach oben zu den Wohnungsfenstern geht. Angespannt betrete ich mit ihr die Wohnung, atme den ihr eigenen Geruch ein, spähe in die Küche, sehe Tildas Mutter schlafend, schnarchend, hilflos, bedrohlich auf dem Sofa liegen.
Ich gleite mit Tilda ein in ein befreiendes, erlösendes, reinwaschendes, klares kaltes Wasser, ich träume mit ihr vom Meer und vom zur Ruhe kommen.
Den Buchdeckel zuklappend, verspüre ich Wehmut.
Ich wünsche allen sehnsüchtigen jungen Frauen einen Viktor mit verstrubbelten weißblonden Haaren, eisblauen Augen und grünen Boxershorts.
Allen Menschen, die zu viel von der so ungleich verteilen Lebenslast tragen, wünsche ich eine so überaus verantwortungsvolle, einfühlsame und starke Tilda.
Allen Tildas dieser Welt wünsche ich Ida, dieses ganz besondere, kluge, in sich ruhende , etwas nerdige Menschenkind.
Und uns LeserInnen wünsche ich mehr Romane von Caroline Wahl.